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Titel
Gerechtigkeit für Europa. Eine Kritik der EU-Kritik


Autor(en)
Kreis, Georg
Erschienen
Basel 2017: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
329 S.
von
Rebekka Wyler, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Ratlosigkeit herrscht, wie es mit dem europäischen Integrationsprozess weitergehen soll. Grossbritannien hat die EU verlassen, rechtspopulistische Regierungen fordern «Brüssel» heraus, auch die Schweiz hadert mit ihrem Verhältnis zu Europa. Das Buch von Georg Kreis ist deshalb aktueller denn je. Der Autor widerspricht einer generalisierenden EU-Kritik und fordert nicht mehr (aber auch nicht weniger) als Gerechtigkeit gegenüber einem der komplexesten politischen Projekte der europäischen Geschichte, auf zwischenwie auch auf überstaatlicher Ebene. Kreis’ Buch stellt eine eingängige, gut lesbare Mischung zwischen zeitgeschichtlicher Analyse und politischem Plädoyer dar. Der Autor stützt sich neben umfangreicher Literatur zur Entwicklung der EU vor allem auf Medienberichte, um die öffentliche Diskussion in den EU-Ländern zum europäischen Integrationsprojekt zu dokumentieren.

Kreis nimmt drei zentrale Motive der EU-Kritik auf und widmet ihnen jeweils eines der Hauptkapitel seines Buches. Dabei geht es um die allgemeine Skepsis gegenüber dem Integrationsprojekt, den Ruf nach mehr Demokratie sowie das Stocken der politischen Einigung. Den Beginn eines allgemeinen Missmuts datiert Kreis auf den Beginn der 1990er Jahre. Vorher habe es in erster Linie punktuelle Kritik an einzelnen Politikfeldern gegeben, die nicht mit einer allgemeinen Infragestellung des Integrationsprojekts verbunden gewesen sei. Der Autor erläutert, wie die EU verschiedensten politischen Strömungen als Projektionsfläche diente. Stichworte wie «Bürokratie», «Überregulierung» oder «Zentralismus » sind bekannt. Ein konstanter Ruf nach Reformen begleitete das Integrationsprojekt. Kreis wirft auch die Frage nach einer europäischen Identität auf. Wieviel Emotion, wieviel Identifikation braucht der Integrationsprozess? Kenntnisreich referiert der Autor die Publikationen dazu, die seit den 1970er Jahren entstanden sind. Als Beigabe gibt er auf den folgenden Seiten eine Reihe treffender, oft sehr pessimistischer Karikaturen aus den 1970er und 1980er Jahren wieder, die sich mit dem Zustand der Gemeinschaft befassen: So entpuppt sich beispielsweise das Europäische Parlament als Papptempel im griechischen Stil, hinter dessen Staffage die nationalen Regierungen weiterhin das Sagen haben.

Im Folgenden befasst sich Kreis eingehend mit dem Diskurs fehlender Mitspracherechte, wobei der Titel des entsprechenden Kapitels – «Das vermeintliche Demokratiedefizit » – in nicht ganz unproblematischer Weise bereits das Resultat der Analyse und die damit einhergehende Kritik Kreis’ an der direkten Demokratie vorwegnimmt. Bereits in der Frühzeit des Integrationsprozesses waren sich verschiedene Interessengruppen uneinig, ob Europa besser bottom-up oder top-down verfasst sein sollte. 1975 wurde beschlossen, Direktwahlen ins Europäische Parlament durchzuführen, 1979 fanden diese zum ersten Mal statt – die Wahlbeteiligung ist seither von ursprünglich 62% konstant zurückgegangen.

Kreis führt an, dass die politische Öffentlichkeit auf gesamteuropäischer Ebene schwach ausgeprägt sei, und dass die ausbleibende Diskussion in der Bevölkerung ein wichtiger Grund für die fehlende Beteiligung sei. Das Thema wird anhand verschiedener Abstimmungen ausgeführt und kommentiert. Immer wieder wird extensiv auf die Neue Zürcher Zeitung als Quelle zurückgegriffen, was zu einer etwas einseitigen Darstellung der Schweizer Aussensicht führt. Wichtig ist Kreis’ Hinweis auf die EU-Volksrechte, insbesondere auf die sogenannte Bürgerinitiative. Eine solche kann seit 2011 bei der Europäischen Kommission eingereicht werden, bedarf einer Million Unterschriften aus mindestens einem Viertel der Mitgliedsländer und hat zwar symbolischen, aber keinen verpflichtenden Charakter.

Abschliessend geht Kreis auf die Frage der politischen Union ein, die seit den Gründungsjahren gefordert wie auch gefürchtet wird. Von Beginn an wurde die wirtschaftliche Union gegenüber der politischen Union priorisiert. Es gab jedoch zu keinem Zeitpunkt eine einheitliche Vorstellung davon, in welche Richtung der Integrationsprozess führen würde, wie umfassend er sein sollte und mit welcher Geschwindigkeit er ablaufen würde. Die Europäische Politische Zusammenarbeit von 1970 (die erst 1986 vertraglich verankert wurde) bedeutete, wie Kreis zutreffend festhält, bloss «leicht ausgebaute Konsultation und leicht verbesserte Koordination» (S. 223), die sich überdies bloss auf aussenpolitische Fragen bezog. Besonders explizit wurden Erweiterung und Vertiefung im Hinblick auf die Osterweiterung zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegeneinander in Stellung gebracht. Eine andere Variante war die seit den 1990er Jahren immer wieder formulierte Idee eines «Kerneuropa», das stärker politisch integriert sein sollte als die restlichen Mitgliedstaaten. Im März 2017, zur Feier des 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römer Verträge, veröffentlichte die Kommission ein Weissbuch mit verschiedenen Szenarien zur Zukunft der EU. Diese reichen von Weiterentwicklung in kleinen Schritten bis zum flächendeckenden Integrationsschub in allen Politikbereichen. Auch unterschiedliche Integrationsgeschwindigkeiten werden explizit thematisiert.

Kreis ruft mit seinem Buch zu mehr Fairness auf. Selbstverständlich kann und soll die EU kritisiert werden, aber mit Augenmass. Nicht jedes Scheitern dürfe dazu führen, der EU die Existenzberechtigung abzusprechen. Denn nicht nur das «Nichtfunktionieren», auch das Funktionieren in vielen Politikbereichen müsse ein Thema sein. Und nicht zu vergessen: 75 Jahre ununterbrochener Friede in Westeuropa. Vielfach kämen – so Kreis – billige Klischees über «Brüssel» zum Zug, ohne dass sich die Kritiker_innen ernsthaft mit der EU, ihrer Geschichte und ihren aktuellen Herausforderungen auseinandersetzen würden. Der Nationalismus feiert zwar ein Comeback, doch das tagespolitische Geschehen – nicht zuletzt auch in Form der Covid-19-Pandemie – zeigt, dass der klassische Nationalstaat kaum noch ausschliessliche Referenzgrösse für die Zukunft sein kann.

Zitierweise:
Wyler, Rebekka: Rezension zu: Kreis, Georg: Gerechtigkeit für Europa. Eine Kritik der EU-Kritik, Basel 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 402-403. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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